Rafik Schami: Rafik erzählt
Ein Fest der Geschichten
Im Oktober 2022 fand im DAI Heidelberg unter dem Motto “In Geschichten zu Hause” erstmalig ein Internationales Kinderbuchfestival statt.
Für die Eröffnung des Festivals konnte das DAI Rafik Schami gewinnen. Der Deutsch-Syrer, der ein unvergleichlicher Vermittler zwischen Orient und Okzident ist, hätte dabei einfach aus seinen wunderbaren literarischen Texten vorlesen. Doch viel lieber noch folgte er der (nicht nur orientalischen) Tradition des Erzählens – und verzauberte gleich zum Auftakt des Festivals zahlreiche kleine wie große Fans!
Rafik Schami hat dem DAI seinen Vortrag beim Kinderbuchfestival in Textform zur Verfügung gestellt – für alle interessierten Leser und Leserinnen, jung wie alt.
Rafik Schami
Kindern kann man nicht genug erzählen
Rede beim Kinderbuchfestival in Heidelberg
22.10.22
Liebe Kinder,
Lebe Eltern und Großeltern,
Liebe Freundinnen und Freunde,
Meine Damen und Herren,
Ich halte nie gerne Vorträge, weil ich nicht gut vorlesen kann. Aber was soll ich tun, wenn mich ein Freund darum bittet? Jakob Köllhofer kenne und schätze ich seit über dreißig Jahren.
Sollte Ihnen mein Vortrag gefallen, so können Sie ihn ruhig für seine Entscheidung loben. Sollte der Vortrag Sie langweilen, so ist es allein meine Schuld.
Kinder sind ganz besondere Wesen. Sie gehören nicht dem Volk, in dem sie zufällig geboren wurden, sondern dem Kindervolk, das weltweit unter den erwachsenen Völkern lebt.
Auch Jesus war in seinem ganzen Wesen kein Angst einflößender Gott, sondern ein Kind. Sein kurzer Spruch spricht Bände:
„Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, euren
Sinn ändert und wieder werdet wie Kinder, könnt ihr nicht in
das Himmelreich kommen.“ (Mt 18, 3)
Deshalb ist er ganz bestimmt im Himmel.
Aber alle Welt ist bemüht, die Kinder so schnell wie möglich aus der Kindheit zu vertreiben und aus ihnen langweilige Erwachsene zu machen. Ich aber habe den Ausspruch eines meiner Lieblingsautoren deutscher Sprache verinnerlicht. Es war Erich Kästner, der in einer Rede zu Schülern sagte: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben. Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.“
Und er beendet die Rede mit dem Ratschlag:
„Liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben
sollten, fragen Sie Ihre Kinder!“
Und als ob sich Kästner und Khalil Gibran abgesprochen hätten, vertrat dieser in seinem weltberühmten Werk Der Prophet eine ähnliche Meinung. Im Gedicht „Eure Kinder“ heißt es:
„Ihr könnt versuchen, ihnen gleich zu sein, aber versucht nicht, sie nach eurem Bild zu schaffen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts oder klammert sich ans Gestern.“
Wenn Sie also gläubig sind, hören Sie bitte auf Jesus, sind Sie von spirituellen Texten fasziniert, so hören Sie auf Gibran. Sind sie ein nüchterner Rationalist oder Atheist, so hören Sie auf Erich Kästner.
Was mich zum Erzähler gemacht hat
Ich glaube heute fest daran, dass meine Kindheit eine große Rolle bei meiner Entwicklung zum Erzähler und später zum Schriftsteller gespielt hat. Ich hatte großes Glück in dieser Kindheit. Meine Umgebung hätte kulturell nicht bunter sein können. Als Angehöriger einer doppelten Minderheit war ich Christ unter Muslimen und Aramäer unter Arabern. Das gab mir Gelegenheit, meinen Freundinnen und Freunden, die der arabischen muslimischen Mehrheit angehörten, von unserer Kultur zu erzählen. Außerdem lebten in meiner unmittelbaren Umgebung Kurden, Tscherkessen, Iraner, Armenier, Juden, Palästinenser, Griechen, Jesiden und Drusen. So habe ich bereits als Kind täglich den Respekt vor anderen Kulturen erfahren. Und es tat meiner Seele gut, all diese farbige Vielfalt kennenzulernen und zu genießen. Heute haben die Kinder in Deutschland eine ähnlich multikulturelle Umgebung und ähnliche Chancen.
Mein Vater war ein stiller, eher schweigsamer Mann, der gerne und täglich las. Meine Mutter war eine weise Analphabetin, die gerne Anekdoten erzählte und hörte. Ich sammelte lustige Gerüchte und Anekdoten für sie. Ihr atemloses Lachen freute mich, und manchmal befreite das Lachen fünf Piaster aus der Dunkelheit ihrer Tasche und führte die Münze in meine Hand. Doch das entscheidende Erlebnis mit ihr war das gemeinsame nächtliche Lauschen der Scheherazade. Zwei Jahre, acht Monate und siebenundzwanzig Tage hörten wir jede Nacht eine Folge der 1001 Nacht. (Natürlich haben wir auch einige Nächte verschlafen oder waren auf Reisen.) Die Sendung begann nachts um halb zwölf. Mein Vater ging früh ins Bett, da er als Bäcker täglich um fünf Uhr aufstehen musste. Meine zwei Brüder interessierten sich nicht für Geschichten. Nach langen Diskussionen schlossen wir, meine Mutter und ich, einen Kompromiss. Ich gehe brav um sieben ins Bett, und meine Mutter weckt mich kurz vor halb zwölf. Sie hielt Wort, und zu zweit hockten wir vor unserem großen Radio. Die Sendung begann mit der Rimski-Korsakows Sinfonie Scheherazade. Nach einer halben Stunde hörte Scheherazade dort auf, wo die Geschichte am spannendsten wurde, und in der Ferne krähte ein Hahn zur Ankündigung der Morgendämmerung. Scheherazade versprach dem König, sie würde ihm die Fortsetzung erzählen, wenn er sie einen Tag länger leben ließe. Der gewalttätige Herrscher, der täglich eine Frau hinrichten ließ, dachte bei sich, lass sie die Fortsetzung erzählen und morgen wird sie getötet, doch bevor er richtig zu sich kam, endete auch die zweite Nacht an einer spannenden Stelle. So verwandelte Scheherazade den gewalttätigen Herrscher in ein lauschendes Kind.
Tausendundeine Frau rettete Scheherazade und heilte dabei den kranken König, der von nun an Frauen achtete.
Übrigens soll man die Zahl 1001 nicht streng mathematisch verstehen. Es bedeutet auf Arabisch schlich und einfach „unendlich“. Nach dem Ende einer Folge konnte ich in der Regel nicht einschlafen. Ich versuchte, eine Fortsetzung zu erfinden, und lag im ersten Jahr mit meinen Phantasien vollkommen daneben, da Kinder nach Harmonie suchen, die Kunst aber nicht. Im zweiten Jahr war meine Trefferquote zwar immer noch miserabel, aber im Nachhinein betrachte ich jene Nächte als meine erste Schule der Erzählkunst.
Was Kinder vom Vorlesen und Erzählen gewinnen
Überlassen Sie das Kind nicht dem Dschungel des Smartphones. Der Anblick eines Babys im Buggy oder im Zug, das seine Umgebung – und sei es eine wunderschöne Landschaft – nicht wahrnimmt, sondern ein Smartphone in seinen kleinen Händen hält und professionell bedient, ist alltäglich geworden.
Das stimmt mich traurig. Ihr Kind wird später noch mehr als genug Zeit für Smartphones haben. Und den Umgang damit lernt man in ein paar Tagen, also wozu die Eile?! Nehmen Sie Ihr Kind oder Enkelkind an die Hand und reisen Sie mit ihm durch die Welt der Geschichten. Nicht nur Sie werden dabei viel Freude haben, sondern das Kind hat dadurch neben dem Vergnügen handfeste Vorteile.
Sowohl private Beobachtungen als auch wissenschaftliche Forschungen zeigen eindeutig den Gewinn des Vorlesens und Erzählens für die Kinder und für die Erzählenden. Wenn Sie Ihre Erinnerung an diese unentbehrlichen Vorteile auffrischen wollen, so schauen Sie doch bitte auf die entsprechende Seite der Stiftung Lesen. Dort werden die zehn Vorteile des Vorlesens sehr ausführlich beschrieben, und sie gelten genauso für das Erzählen. Hier nur ein schneller Durchgang:
1. Vorlesen schafft Nähe und stärkt den familiären Zusammenhalt.
2. Durch die Geschichten vergrößert sich der Wortschatz der Kinder.
3. Geschichten machen Kinder erfinderisch und standfester gegenüber Krisen.
4. Geschichten erhöhen die Sensibilität der Kinder, was ihnen später hilft, ihre Freundinnen und Freunde besser verstehen.
5. Geschichten erhöhen den Gerechtigkeitssinn der Kinder, weil sie sich mit den Heldinnen und Helden verbunden fühlen/identifizieren.
6. Geschichten machen die Kinder klüger. Zum einen, weil sie viele verschiedene Welten kennenlernen und miterleben, wie Probleme gelöst werden. Zum anderen, weil sich das Denken in Wörtern bildet, und je größer der Wortschatz eines Kindes ist, umso klüger wird es.
7. Das Zuhören fördert nicht nur die Kreativität, sondern vor allem die Konzentration. Das Scrollen tut es weniger.
8. Kinder, die oft mit Büchern umgehen, lernen schnell die Buchstaben, fangen aus Neugier an, sie nachzubilden, und das hilft ihnen beim Eintritt in die Schule.
9. Kinder, die oft Geschichten hören oder vorgelesen bekommen, haben bald Freude daran, Sätze und Absätze selbstständig zu entschlüsseln.
10. Kinder, die vor dem Schuleintritt Geschichten erzählt oder vorgelesen bekamen, haben nachweislich nicht nur in der Sprache, sondern in den anderen Fächer bessere Noten.
Also worauf warten Sie noch?!
Aber nehmen Sie bitte zwei kleine Bemerkungen von mir mit auf dem Weg:
Ist es nicht komisch, dass wir uns freuen, wenn Kinder langsam sprechen lernen, wobei sie die Wörter oft auf komische Weise falsch aussprechen, und dann wollen wir, sobald sie perfekt sprechen können, dass sie im Kreis der Erwachsenen schweigen!?
Ich kann Ihnen nur empfehlen, Kinder sprechen und Fragen stellen zu lassen, und wenn Sie die Antwort nicht wissen, so sagen sie es den Kindern ehrlich, denn oft stellen Kinder geniale Fragen, die sehr schwer oder gar nicht zu beantworten sind.
Vorlesen und Erzählen gegen die Isolation
Kinder einer Minderheit, seien es Kinder von Geflüchteten oder von Arbeitskräften nicht europäischer Herkunft sind besonders belastet. Sie empfinden jede gegen ihre Eltern gerichtete Bedrohung, Beschimpfungen oder Herabwürdigung, Isolation oder Abschiebung, noch intensiver als die Erwachsenen. Wie sehr diese Kinder gedemütigt werden, die ausländerfeindliche Sprüche vor der Lyrik von Heine kennenlernen, das sollte die Mehrheitsgesellschaft aus ihrer Gleichgültigkeit aufrütteln. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Kind und müssen zur besten Sendezeit im Fernsehen die abfällige und rassistische Witzelei eines Comedians gegen Ihre Eltern mitanhören.
Aber nicht nur das. Diese Kinder, die sich hier trotzdem schneller integrieren als ihre Eltern, bekommen dauernd, fast täglich zu hören, dass ihre Eltern zurückkehren sollten oder gar müssen. Das ist nicht nur traurig, sondern wirkt als andauerndes Provisorium desintegrativ.
Solche Kinder brauchen Geschichten, die ihnen Mut machen, die ihnen zeigen, dass Außenseiter auch eine Chance haben und dass Freundschaft unabhängig von einer kalten, ablehnenden Umgebung entstehen und einen retten kann.
Lachen mit Kindern
Aristoteles schrieb: „Lachen ist eine körperliche Übung von großem Wert für die Gesundheit.“ Der griechische Gelehrte hat das bereits im vierten Jahrhundert v. Chr. erkannt. Allein im Gesicht betätigt das Lachen siebzehn Muskeln. Schlechte Laune braucht keine Muskeln. Mich hat das Phänomen „Lachen“ immer fasziniert. Vor zwei Jahren habe ich einen langen Essay über das Lachen veröffentlicht. Für heute muss es aus Zeitgründen genügen, ein paar wichtige Punkte zu erwähnen, weil das Lachen für Kinder so wichtig ist.
Die Forschung hat festgestellt, dass Kinder am Tag fast 400 Mal, die Erwachsene nicht einmal 20 Mal lachen. Und man hat außerdem herausgefunden, dass Erwachsene immer weniger lachen.
Kinder lachen gerne, und Lachen ist sehr gesund. Suchen Sie für sich und das Kind Lachgeschichten, Kinderwitze. Lachen hat viele positive Funktionen. Mancher Witz kann lehrreicher sein als eine Stunde predigen und mahnen.
Also suchen Sie mit Ihren Kindern oder Enkelkindern nach heiteren Geschichten, die durch Lachen belehren. Lachen ist der beste Schmuggler von Gedanken und Ideen. Das sagt noch nichts über die Qualität der Gedanken, manche Comedians füllen Säle mit ihrem geschmacklosen Humor auf Kosten der Würde von Frauen, Geflüchteten und Angehörigen anderer Kulturen und Religionen. Solche Witze erzeugen bei einem gleichgültigen Publikum ein stupides Lachen. Aber das Lachen kann auch Weisheiten und wichtige Ratschläge fürs Leben der Kinder transportieren, und es regt ihre Phantasie an, um ungewöhnliche Antworten, Ideen und Möglichkeiten zu finden.
Ab sechs, sieben Jahren können Kinder Witze verstehen und genießen. Erzählen Sie ihnen Witze und kurze Lachgeschichten, die frei sind von Gewalt und Beleidigungen Anderer. Für kleinere Kinder sind einfache kurze Wortspiele am besten geeignet:
Papa bringt seinen kleinen Sohn ins Bett. Nach einer Weile
öffnet die Mutter ganz vorsichtig die Zimmertür und fragt leise:
“Und, ist er schon eingeschlafen?”
Antwortet der kleine Sohn: “Ja, und er schnarcht!”
***
Wenn die Kinder etwas älter sind, so können Sie ihnen
anspruchsvollere Witze erzählen:
Ein heller Sommertag. Der kleine Hans geht mit seinem Opa im Park spazieren. Der alte Mann pflückt einen Grashalm und steckt ihn gedankenverloren in den Mund.
„Opa, Opa, wir bekommen bald ein Auto!“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Vati hat gesagt, wenn Opa ins Gras beißt, kriegen wir einen
neuen Wagen!“
***
Ein Känguru hüpft durch die australische Landschaft. Auf einmal streckt ein Pinguinbaby seinen Kopf aus dem Beutel der Kängurumutter und muss sich übergeben. Zu gleicher Zeit steht ein Kängurubaby am Südpol und bibbert: „Blöder Schüleraustausch!“
***
Religionsunterricht. „Liebe Kinder“, fragt der Religionslehrer, „was müsst ihr tun, damit euch Gott eure Sünden vergibt?“ Da sagt Katja im Brustton der Überzeugung: „Sündigen, Herr Lehrer, sündigen müssen wir zuerst.“
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Genießen der Geschichten mit Ihren Kindern oder Enkeln.
Und nun zum Abschluss noch ein kleines Geschenk für Ihre Geduld mit mir, eine ungewöhnliche Geschichte über eine Freundschaft zwischen einer Maus und einem Elefanten. Es ist die Geschichte von Bobo und Susu. Sie ist im Buch Der Kameltreiber von Heidelberg nachzulesen.
Rafik Schami
© 2022
Den Originaltext inklusive Quellenangaben, Verweisen und Links finden Sie hier.
Mehr zu Rafik Schami:
Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren. Sein dort begonnenes Studium der Chemie führte er in Heidelberg zu Ende. Zu unser aller Glück wurde er aber nicht Chemiker, sondern Autor. Er schreibt fast ausschließlich auf Deutsch. Rafik Schami wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2022 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille. Er lebt seit vielen Jahren in der Pfalz.